Das Glockenspiel im Neuen Rathaus am Münchner Marienplatz zieht seit über 100 Jahren Gäste und Einheimische in seinen Bann. Was viele nicht wissen: Hier wird Tag für Tag noch echte Handarbeit verrichtet, ganz so wie früher. Ein exklusiver Blick hinter die Kulissen. In zehn Bildern.
High Noon auf dem Münchner Marienplatz. Alle Blicke richten sich nach oben auf den Turm des Neuen Rathauses. Dann endlich ertönt das Glockenspiel: Kurz nach 11 Uhr hebelt der bayerische Ritter den Lothringer Konkurrenten zuverlässig mit der Lanze vom Pferd, gefolgt vom Animationstanz der Münchner Schäffler (Fassmacher), gefolgt von den Jubelrufen und dem Applaus der Zuschauer.
Die beiden Spielszenen haben in über 100 Jahren nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Im Gegenteil: Seit den Olympischen Sommerspielen 1972 ziehen die Figuren zusätzlich um 12 Uhr und von März bis Oktober auch um 17 Uhr ihre Runden. Funktioniert das alles auf Knopfdruck? Von einem exklusiven Besuch hinter den Kulissen des Glockenspiels haben wir Bilder und erstaunliche Einsichten mitgebracht.
Täglich um 11 Uhr und um 12 Uhr, sowie von März bis Oktober zusätzlich um 17 Uhr.
Täglich um 21 Uhr bläst der Nachtwächter in sein Horn, während der Engel das Münchner Kindl segnet.
Der hier so in sich gekehrt wirkt, ist ein Standartenträger aus dem Gefolge des bayerischen Herzogs Wilhelm V., erkennbar an den weiß blauen Rauten und dem bayerischen Löwen auf der Flagge. Mit seinen 1,40 Metern reicht die Figur aus Kupfer unserem Fotografen Frank nur bis zur Brust. So ganz sicher können wir es aber nicht sagen, denn Frank muss für die Aufnahmen auf allen Vieren zu den Figuren hinein krabbeln. Da, wo das Licht einfällt, geht es für die Figuren hinaus auf den Marienplatz, auf die Glockenspielbühne. Draußen warten bereits Wilhelm der V. und seine Frau Renata von Lothringen auf den Aufmarsch der Höflinge und den Beginn des Ritterturniers.
Das Turnier anlässlich der zwei Wochen andauernden Hochzeitsfeierlichkeiten von Wilhelm und Renata hat tatsächlich so im Frühjahr 1568 auf dem Marienplatz stattgefunden. Als das Paar nach der Trauung die Frauenkirche verließ, soll noch Schnee gelegen haben. Auch die Figuren im Rathausturm trotzen Wind und Wetter wie dieser Herold. An 364 Tagen im Jahr rückt er aus. Nur am Karfreitag steht das Glockenspiel ganztägig still. Verspätungen darf es nicht geben. Das Glockenspiel-Team ist auf Zack. Sonst stünden auch bereits nach zwei Minuten die ersten Touristen beim Rathauspförtner auf der Platte. Das Glockenspiel Teil drei, das jeden Abend um 21 Uhr aufgeführt wird, ist dagegen ein echter Geheimtipp. Zu diesem Zeitpunkt bringen Nachtwächter und Schutzengel das Münchner Kindl im rechten seitlichen Erker des Carillons zu den Klängen von Johannes Brahms Wiegenlied zu Bett.
Bei unserem Besuch macht der gesamte Hofstaat bella figura wie dieser Page mit seinem grasgrünen Hut und seinem roten Wams. Erst kürzlich wurden alle Figuren ausgebaut und haben einen neuen Anstrich erhalten, auch die Schäffler eins tiefer. Von ihnen haben wir leider kein Bild. Um sie aus der Nähe zu fotografieren, müsste sich Frank außen am Turm abseilen. Darauf waren wir nicht vorbereitet, aber ihre Geschichte wollen wir hier kurz erzählen. Als Schäffler wird die Zunft der Fassmacher bezeichnet. Sie sollen sich nach einer schweren Pestepidemie im Jahr 1517 als Erste wieder auf die Straßen gewagt und mit ihrem Tanz die Bevölkerung erheitert haben. Der Tanz der Münchner Schäffler wird nach wie vor alle sieben Jahre (das nächste Mal 2026) von echten Tänzern an vielen Orten in der Stadt aufgeführt.
Die neue blitzblanke Rüstung nutzt dem Lothringer Ritter im Hintergrund nichts. Die 2.10 Meter hohe Reiterfigur mit der rot weißen Schabracke ist der ewige Verlierer. In der zweiten Runde wird er vom Pferd kippen und ganz am Ende des Glockenspiels von einem Mitarbeiter manuell wieder aufgerichtet werden. Hier kommt die zehnköpfige Mannschaft ins Spiel, die ganzjährig für einen reibungslosen Ablauf sorgt. Nicht nur dem Ritter muss wieder auf das Pferd geholfen werden. Das elektromechanische Glockenspiel funktioniert fast noch genauso, wie zu der Zeit, als es installiert wurde und München gerade mal 498.503 Bewohner hatte. Heute wird es allerdings mit Solarstrom betrieben. Dafür, dass es schon über 100 Jahre in Betrieb ist, läuft es sehr gut, aber es braucht eine aufmerksame Pflege und Wartung. Seine Einzelteile müssen geschliffen und geschmiert werden, Kontakte poliert, Schrauben müssen nachgezogen, Rädchen, Zahnräder und Anschläge regelmäßig ersetzt werden.
„Das Beste, was passieren kann, ist, dass etwas kaputt geht“, erklärt uns ein Mitarbeiter, der seit einigen Jahren mit an Bord ist und sehr stolz darauf, dass er den Münchner Besuchermagnet Nr. 1 am Laufen hält. „Fehlerkultur“, ja sogar „Fehlerfreundlichkeit“ sind im Rathausturm kein Fremdwort. Jede Störung im Betrieb trägt zum Verständnis der Funktionsweise des Glockenspiels bei. Jeder auftretende Fehler ist für das Team eine wertvolle Arbeitserfahrung. Es dauert Jahre, bis man das Glockenspiel richtig gut kennt. Anfänger müssen lernen, wie man die Abläufe sekundengenau steuert. Damit der bayerische Ritter und alle anderen Protagonisten pünktlich auf den Plan treten, muss eine genaue Abfolge eingehalten werden. Am Anfang drückt der Mitarbeiter tatsächlich einen Startknopf. Nach und nach schaltet er dann von Hand zunächst die Lieder und dann, nach einer festen Choreografie, die einzelnen Figuren und Figurengruppen hinzu.
Die Schaltzentrale im fünften Stock des Turms nimmt überraschend wenig Platz ein. Äußerlich ähnelt sie einer Vitrine aus der guten Stube meiner Großmutter. Unter Glas befinden sich die Schalthebel, mit denen das Glockenspiel dirigiert wird. Von links nach rechts im Bild zu sehen sind der Hebel für das Ritterturnier, für die begleitende Musik unter Tag und für die Gute-Nacht-Musik für das Münchner Kindl. Auch der „Hahn“, der am Ende des Glockenspiels kräht, und der „Hanswurst“, Ensemble-Mitglied der Schäffler, werden von Hand zugeschaltet. Am Ende einer jeden Vorstellung ist der Applaus der Menge auf dem Marienplatz gewiss. Es ist derselbe, den Pilot*innen erhalten, wenn sie eine super Landung hingelegt haben.
Im 8. Stock, etwa auf Höhe der Aussichtsplattform, aber im Gegensatz zu dieser für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, spielt die Musik. Besser gesagt werden hier die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Glocken im Dachgeschoss die Spielszenen musikalisch untermalen. Wird am Hauptschalter drei Stockwerke tiefer der entsprechende Schalter umgelegt, beginnt sich hier eine purpurrote und über und über mit kleinen Metallstiften versehene Walze zu drehen. Durch die Anordnung der Stifte sind die mehrstimmigen Spielweisen programmiert. Das Prinzip ist dasselbe wie bei einer dieser kleinen Minidrehorgeln, die man von Hand mit einer Kurbel antreibt. Jeder Stift löst über ein Schalterrelais einen Glockenschlag aus.
Im Schrank links unten stehen die Türen offen. Darin sind fünf weitere Walzen untergebracht. Gerade ist die Walze 3 im Spielbetrieb. Ihre vier Melodien „Loreley“, „Preisend mit viel schönen Reden“, „Schäfflertanz 1. Teil“ und das „Wendelstein-Lied“ sind im März und im August zu hören. Insgesamt hat das Glockenspiel sechs Walzen mit insgesamt 22 unterschiedlichen Melodien im Repertoire. Sie stammen überwiegend aus dem volkstümlichen Liedgut des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die vier Musikstücke auf Walze 6 werden nur in der Adventszeit gespielt. Die Mitarbeiter*innen hören die Melodien nach all den Jahren immer noch gerne und summen sie im Verborgenen mit. Versuche, von diesem Musikprogramm einmal abzuweichen und beispielsweise Klaviermusik einzuspielen, stießen auf wenig Gegenliebe. Auch ein Anlauf, den Komponisten Carl Orff 1958 zur 800-Jahr-Feier der Stadt für eine Komposition eigens für das Glockenspiel zu gewinnen, scheiterte.
Hier befinden wir uns im 10. Stockwerk. Hier oben ist es kalt und zugig und über uns gibt es nur noch den Glockenstuhl mit seinen 43 Glocken sowie eine kleine Aussichtsplattform, die die Mitarbeiter*innen manchmal nutzen, um Luft zu schnappen – denn im sogenannten Maschinenraum riecht es wie in einer Autowerkstatt. Uns gegenüber steht der nette Mitarbeiter, der uns gerade in allen faszinierenden Einzelheiten erklärt, was weiter passiert, wenn die Impulse von der Musikwalze aus dem 8. Stock hier oben ankommen. Dazu manipuliert er von Hand eines der 44 gut geölten Spielwerke (44 Spielwerke für 43 Glocken, eines ist Ersatz). Über Ketten und ein Zahnradwerk werden hier die Zugvorrichtungen für die Glocken in Bewegung gesetzt, d.h. letztendlich dafür gesorgt, dass der Klöppel die Glocke zum Klingen bringt.
Das Glockenspiel klingt nicht immer harmonisch, es ist Witterungseinflüssen ausgesetzt und die alte Technik hat ihre Tücken. Zum 850. Stadtgeburtstag im Jahr 2008 wurden sämtliche Glocken ausgebaut, gereinigt und aufgearbeitet, wieder eingebaut, klanglich überarbeitet und gestimmt. Die Einheimischen haben dafür großzügig gespendet. Dennoch kommt es immer wieder mal zu Missklängen, wenn sich wegen Hitze oder Kälte das Metall verzieht oder sich Schrauben lockern. Eine ausgefallene Glocke ist dabei durchaus noch im Toleranzbereich. Wenn mehrere Glocken fehlen, fällt es den meisten vielleicht noch nicht einmal auf, aber für das Team vom Glockenspiel ist dann eine Grenze überschritten. Klingt das Glockenspiel schräg, will ihnen das Schnitzel in der Kantine nicht mehr so recht schmecken. Mit viel Geduld und Spucke rücken sie dann dem Problem auf den Leib und lösen es: An 364 Tagen im Jahr, bei jedem Wetter und zur Freude der München-Gäste aus aller Welt.
Das Glockenspiel ist Pflicht, die Auffahrt zur Aussichtsgalerie im Rathausturm die Kür. Hoch über dem Gewimmel auf dem Marienplatz und den Dächern der Altstadt hat man hier den freien Blick hinüber zu den Zwiebeltürmen der benachbarten Frauenkirche. Im Norden sieht man bis hin zu den Zeltdächern des Olympiaparks und zur Allianz Arena. Im Süden schweift der Blick über das Grün der Isarauen und der Wälder im Umland hinweg, bei besonders klarer Sicht sogar bis hin zu den Alpen.
Neben Glockenspiel und Rathausturm lohnt sich übrigens auch eine exklusive Tour durch das Neue Rathaus selbst: Hier zeigen und erklären die offiziellen Guides der Landeshauptstadt, was München tief in seinem Innersten bewegt. 90 Minuten rund um Politik und Fußballgötter, Gotik und „Geldbeutel-Waschen“, Monachia und „Metzgersprung“ im vielleicht schönsten Mittelalter-Fake-Gebäude nördlich der Alpen. Unsere Autorin hat die Tour mitgemacht – und war ziemlich begeistert!